Wolkersdorf im Weinviertel

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Blog | Unwetter, Theorie und Praxis am 24.06.2021

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Unwetter, Theorie und Praxis am 24.06.2021

28.06.2021 13:15

Es gibt Tage im Meteorologenleben, die unvergesslich bleiben. Der 22.04.2008 war für mich so einer, als ein per se unspektakuläres, aber über lange Zeit ortsfestes Gewitter den Münichsthalerbach in Wolkersdorf über die Ufer treten ließ. Oder der 23.07.2009 mit einer spätabendlichen, den Himmel in blaues Dauerfeuer tauchenden Gewitterzelle über Wien und dem südlichen Weinviertel. Seit letzter Woche ist ein weiteres Datum in dieser sehr persönlichen Liste eingetragen: Donnerstag, der 24.06.2021. Ein Tag, der bei vielen Personen viele Fragen aufgeworfen hat, und leider auch unvorstellbare Verwüstung in Teilen des Waldviertels, des Weinviertels und besonders in Südmähren mit sich gebracht hat. Alle, die die Videos und Fotos aus Hodonin, Hrusky und Moravska Nova Ves gesehen haben, können erahnen, welche Naturgewalt bei diesen Gewitterzellen am Werken war. War das vorhersehbar? Wie entstehen Großhagel und Tornados? Werden uns diese Wetterphänomene in Zukunft öfters begegnen? Ich entschuldige mich bereits im Voraus für einen sehr langen Beitrag – und: Nicht alle der gestellten Fragen lassen sich zweifelsfrei beantworten.

Ich starte mit Grundlagen, die unerlässlich sind, um Gewitterentstehung und -vorhersage zu verstehen. Das Prinzip, auf das man alles herunterbrechen kann, ist einfach: Auftriebskraft; oder umgangssprachlich: Warme Luft steigt auf. Wird Luft am Boden stark erwärmt, kann sie sich aufwärts bewegen, wenn diese Luft – man spricht von einem „Luftpaket“ – wärmer als die Umgebungsluft ist. Steigt die Luft weit genug auf, können sich Gewitterwolken bilden. Die Krux dabei: Aufsteigende Luft dehnt sich aus, weil der Luftdruck mit zunehmender Höhe abnimmt. Diese Ausdehnung führt zu einer Abkühlung. Das heißt, damit Luft vom Boden aus in höhere Schichten aufsteigen kann, muss diese Abkühlung durch Ausdehnung weniger stark sein als die Temperaturabnahme der Umgebungsluft mit der Höhe. Ein Phänomen erweist sich dabei als hilfreich. Durch Kondensation, also Wolkenbildung, wird sogenannte latente, im Phasenübergang „versteckte“, Wärme im aufsteigenden Luftpaket freigesetzt, die die Abkühlung durch Ausdehnung etwas reduziert. Unter Berücksichtigung dieses theoretischen Ablaufs sind mehrere Faktoren augenscheinlich, die zur Gewitterentstehung beitragen: (1) Ein starker vertikaler Temperaturabfall der Umgebungsluft, man spricht von labiler Temperaturschichtung, weil vom Boden aufsteigende Luft dadurch wärmer als die Umgebung sein kann. (2) Hohe Luftfeuchtigkeit in Bodennähe, weil es dadurch rascher zu Kondensation kommt, wodurch in der aufsteigenden Luft mehr Wärme freigesetzt wird. (3) Starke Sonneneinstrahlung am Boden, weil sich die Luft bodennah dadurch stärker erwärmt. Die ersten beiden dieser Faktoren werden von MeteorologInnen mit dem Parameter „CAPE“ subsumiert - der Begriff steht für „Convective Available Potential Energy“. Das ist jene Energie, die einem vom Boden aufsteigenden Luftpaket unter der aktuellen Temperatur- und Feuchteschichtung der Atmosphäre theoretisch als Auftrieb zur Verfügung steht. CAPE kann sowohl durch vertikale Temperatur- und Feuchtemessungen mit Radiosonden, als auch durch Wettermodelle berechnet werden. Ein wichtiger Puzzlestein für die Gewittervorhersage, aber nicht der einzige. Der Parameter CAPE hat einen Gegenspieler.

Zwischen dem bodennahen Teil der Atmosphäre, der sogenannten Grenzschicht, und der freien Atmosphäre darüber gibt es beinahe unter allen meteorologischen Bedingungen der mittleren Breiten eine stabilere Temperaturschicht. Diese stellt eine natürliche Barriere für vertikale Luftbewegungen da, weil vom Boden aufsteigende Luftpakete während des Aufstiegs durch diese stabilere Schicht kühler werden können als die Umgebungsluft und dadurch wieder absinken – sie erfahren also eine negative, nämlich zum Boden gerichtete „Auftriebskraft“. Dieses Phänomen wird durch den Parameter „CIN“ beschrieben: Convective Inhibition. Diese Hürde müssen aufsteigende Luftpakete also durchbrechen, danach steht ihnen unter geeigneten, labilen Bedingungen in der freien Atmosphäre wieder Energie für den weiteren Aufstieg zur Verfügung. Umgangssprachlich, aber sehr anschaulich wird dies als Deckel beschrieben. Paradoxerweise – und hier zeigt sich erstmals, wie scheinbar widersprüchlich Gewittervorhersage sein kann – kann sich gerade CIN als förderlich für starke Gewitterentwicklungen erweisen. Durch die stabile Temperaturschichtung wird nämlich die Wolkenbildung im frühen Tagesverlauf unterdrückt, und die bodennahe Luft kann sich durch die volle Einstrahlung deutlich mehr erwärmen, wodurch sich CAPE erhöht. Schafft es ein Luftpaket den Deckel zu durchbrechen, dann steht diesem deutlich mehr Energie zur Verfügung, als wenn es bereits am Vormittag mit weniger Einstrahlung und geringeren bodennahen Temperaturen zu Entwicklungen gekommen wäre. Wenn man sich die Atmosphäre wie einen Kochtopf vorstellt – und das fällt vermutlich selbst mit großer Fantasie gar nicht so leicht – dann wäre CIN der Kochdeckel, während unsere bodennahe Atmosphäre im Kochtopf von unten geheizt würde, so wie die reale Atmosphäre durch die Absorption von Sonneneinstrahlung an der Erdoberfläche. Wäre der Deckel nicht auf dem Kochtopf, würde die geheizte „Atmosphäre“ im Kochtopf rasch und beständig nach oben entweichen. Mit aufgesetztem Deckel allerdings erwärmt sich die „Atmosphäre“ im Kochtopf viel stärker, und wenn man den Deckel dann doch einmal lüftet, wird der entweichende Wasserdampf viel stärker nach oben schießen, als dies ohne Deckel der Fall gewesen wäre.

Wir haben nun zwei der wichtigsten Parameter für die Gewittervorhersage kennengelernt: CAPE und CIN. Man darf allerdings nicht den Fehler machen, für die Gewittervorhersage nur auf diese Parameter zu vertrauen. Ich kann mich leidvoll an wochenlange Hitzewellen z.B. im Sommer 2015 erinnern, als reichlich CAPE in der Atmosphäre vorhanden war, es aber jeden Tag bei strahlend blauem Himmel und über 30°C blieb. Einerseits, weil das CIN unüberwindbar hoch war, selbst mit voller Einstrahlung. Andererseits, weil es in der realen Atmosphäre immer einen Auslöser, modern ausgedrückt „Trigger“ benötigt, um Luftpakete vom Boden dann tatsächlich auf den Weg in die Vertikale zu schicken und das CIN zu überwinden. Dafür kommen diverse Phänomene infrage: Eines der häufigsten in unserem Raum sind sogenannte Konvergenzlinien, also Bereiche, in denen Luft aus mehreren Richtungen zusammenströmt. Zu erkennen sind solche Linien durch über größeres Gebiet verteilte Windmessungen. Angenommen, über dem Waldviertel herrschte Westwind, während alle Stationen im Weinviertel Südostwind melden, dann läge irgendwo zwischen Wald- und Weinviertel die Konvergenzlinie. Durch das Zusammenströmen des Windes muss Luft nach oben ausweichen, und der Prozess der Gewitterentstehung kann in Gang gesetzt werden. Andere mögliche Trigger sind Kaltfronten, erzwungenes Aufsteigen an Gebirgen und unzählige mehr. Eine der Hauptaufgaben bei der Gewittervorhersage ist es, Ort und Stärke des Triggers richtig einzuschätzen.

Sind alle Bedingungen erfüllt und es kommt tatsächlich zur Gewitterbildung, dann gehen durch Kondensation rasch große Wassermassen vom gasförmigen Zustand (Wasserdampf ist unsichtbar!) in den flüssigen, in größeren Höhen auch festen Zustand über, es kommt zur Wolken- und Niederschlagsbildung (Wolken sind bekanntermaßen sichtbar, aber natürlich nicht gasförmig). Der Bereich, in dem Luft von bodennahen Schichten aus in die Wolke aufsteigt, wird Aufwindbereich genannt. Die Geschwindigkeit, mit der Luft vertikal in die Höhe steigt, erreicht in Aufwinden gut und gerne 60 km/h (und das ist nur die vertikale Komponente der Geschwindigkeit!), bei hohem CAPE, also hoher Auftriebskraft, auch deutlich mehr. Die Wechselwirkung zwischen festen und flüssigen Partikeln in der Wolke führt zur Ladungstrennung, die sich in Form einer der berühmtesten Gewittererscheinungen manifestiert: Dem Blitz. Ist der Aufwind stark genug, können große Eispartikel gegen die Schwerkraft in der Höhe gehalten werden und Hagelkörner bilden sich. Die Vorstellung, dass diese Hagelkörner wie ein Ringelspiel mehrere Zyklen zwischen Unter- und Obergrenze der Wolke durchlaufen, gilt als überholt, vielmehr wachsen diese Eispartikel großteils in einem eng definierten Höhenbereich zu größeren Körnern und fallen schließlich zu Boden, wenn sie schwer genug geworden sind, um nicht mehr durch die Aufwinde in der Wolke gehalten zu werden.

Durch die Niederschlagsbildung wird ein Prozess in Gang gesetzt, der dem starken Aufwind entgegenwirkt: Wenn Wasser verdunstet, wird der Luft Wärme entzogen, und diese abgekühlte Luft beginnt abzusinken; ein Abwindbereich bildet sich. Typischerweise nach 30 bis 60 Minuten dominiert der Abwind gegenüber dem Aufwind, und das Gewitter besiegelt sein eigenes Schicksal. Fatalerweise kann dieser Abwind, bodennah in die Horizontale gelenkt, zu Konvergenzlinien beitragen, an denen dann wieder neue Gewitter ihren Lebenszyklen beginnen.

Es gibt aber auch Gewitterarten, die deutlich länger als eine Stunde existieren, ohne dass sie durch ihren eigenen Abwind abgewürgt werden. Wie ist das möglich? Wir stoßen auf den finalen Parameter, der gewöhnliche Gewittertage von echten Unwettertagen wie dem 24.06.2021 unterscheidet.

Diese Zutat klingt ein wenig exotisch: Vertikale Windscherung. Wenn Wind in unterschiedlichen Höhen aus verschiedenen Richtungen und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit weht, dann handelt es sich dabei um ebendiese Windscherung. Am 24.06. wehte bodennah Ostwind, während in größeren Höhen starker Südwestwind herrschte. Diese Konstellation erlaubt es Gewitterzellen, sich selbst in charakteristischer Form zu organisieren. Unter diesem Prozess versteht man, dass sich Auf- und Abwindbereich einer Gewitterzelle räumlich trennen, wodurch der eigene Niederschlag nicht mehr in den Aufwindbereich fallen kann. Gewitter können somit einerseits eine deutlich längere Lebensdauer erreichen, weil der entstehende Abwind den Aufwind nicht mehr so stark beeinflussen kann, um das eigene Ende einzuläuten. Andererseits induziert die vertikale Windscherung eine Rotation des Aufwindbereichs, und führt zur Ausbildung einer sogenannten „Mesozyklone“. Im Umfeld der Gewitterzelle stellt sich ein komplexes Windsystem ein, in dem einerseits warme, energiereiche Luft in das Gewitter eingesaugt wird, und andererseits niederschlagsgekühlte Luft aus dem Gewitter herausgeführt wird. Die Bewegungsrichtung dieser Zellen folgt in vielen Fällen nicht mehr der großräumigen Strömung, sondern bekommt (auf der Nordhalbkugel, und auch dort nicht in allen Fällen) einen Rechtsdrall, man spricht vom Rechtsausscheren. Zellen, die über längere Zeitdauer einen rotierenden Aufwindbereich aufweisen, werden blumig als Superzellen bezeichnet und stellen in jeder Hinsicht das Maximum der Gewitterentwicklung dar. Superzellen sind für den größten Hagelschlag, die heftigsten Abwinde (Downbursts) und auch für die stärksten Tornadoentwicklungen verantwortlich – denn unter bestimmten Bedingungen, die zum Teil immer noch Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sind, setzt sich die Rotation unterhalb der Mesozyklone bis zum Boden fort und führt zu Tornados. Neben der erwähnten vertikalen Windscherung besonders in tiefen Schichten wurde auch hohe bodennahe Feuchte als ein Schlüsselfaktor dafür identifiziert.

Ich fasse kurz zusammen: Zur Gewittervorhersage betrachten MeteorologInnen die Energie, die aufgrund der vertikalen Temperaturschichtung freigesetzt werden kann (CAPE) sowie die Energie, die aufgebracht werden muss, um die stabilere Schicht am Oberrand der Grenzschicht zu überwinden (CIN). Darüber hinaus müssen mögliche Trigger für Konvektion beachtet werden, z.B. Konvergenzen. Um das Schadenspotenzial und die Möglichkeit der Entstehung von Superzellen zu eruieren, ist die vertikale Windscherung ein Schlüsselfaktor.

Beinahe ungläubig haben MeteorologInnen vergangene Woche die Modellrechnungen für den Donnerstagnachmittag und -abend begutachtet. Im Vorfeld einer schwachen und sich kaum verlagernden Kaltfront, an der es im westlichen und nördlichen Österreich sowie entlang einer von Südwest-Nordost-orientierten Linie von Tschechien bis Polen schon an mehreren Tagen zu heftigen Unwettern gekommen war, sollten sich an diesem Donnerstag auch in unserer Gegend alle Parameter zusammenfinden, die für heftige Gewitter sorgen – und zwar allesamt in einer Ausprägung, wie sie bei uns in den Jahrzehnten zuvor selten zusammenkamen. Die als CAPE zur Verfügung stehende Energie war in der aufgeheizten und feuchten Atmosphäre auf Anschlag, und vor allem die Windscherung war beängstigend hoch. Es war klar, dass Entwicklungen an diesem Tag heftig ausfallen würden, das einzige Fragezeichen bestand in einer stabilen Schicht in ca. 1500 Meter Höhe, also einem besonders stabilen „Deckel“, und ob dieser Deckel eventuell durch Konvergenzen auch im Flachland abseits des Waldviertels durchbrochen würde. Das mögliche Brechen dieses Deckels sollte im Weinviertel den Unterschied machen zwischen einem freundlichen Sommertag und einem verheerenden Unwettertag. Diese Art von Deckel fällt im Wiener Becken und Weinviertel bei Südwestanströmungen wie an diesem Tag besonders stark aus, weil aufgeheizte Luft aus dem Alpenvorland über die bodennahe Luft strömt.

Ein ehemaliger Studienkollege – Manuel von wetter-waldviertel.at – und ich verabredeten uns an diesem Tag, um die Gewitterentwicklungen mit eigenen Augen beobachten und dokumentieren zu können. Wir trafen uns am frühen Nachmittag in Wien, und konnten am Himmel bereits die Vorboten erster Gewitter sehen, die sich früher als erwartet im Bereich der Gutensteiner Alpen gebildet hatten. Cirruswolken, also hohe Eiswolken, überzogen mit der starken Südwestströmung den Himmel. In 9 von 10 Fällen markiert das das Ende möglicher Gewitterentwicklungen im Raum Wien und nördlich davon, weil die Sonneneinstrahlung damit wegfällt und der nahende Abwind der Gewitter bald kühlere Luft heranführt. Nicht so an diesem Tag. Die Windrichtung im Wiener Becken und Weinviertel verblieb auf Ost, und die Luftfeuchtigkeit stieg mit den ersten Gewittern, die bald das südliche Wiener Becken erreichten, noch weiter an. Es wurde unerträglich, fast tropisch schwül, ohne dass das unheilvolle Potenzial dieser Wetterlage ansatzweise ausgeschöpft worden wäre. Gleichzeitig bildeten sich entlang einer Konvergenz auch im Waldviertel die dort erwartbaren heftigen Gewitter, die einerseits bereits großen Hagel bildeten, und andererseits die Konvergenzlinie zwischen West- und Ostwind schrittweise in Richtung Weinviertel verschoben. Manuel und ich positionierten uns in Hausleiten nahe Stockerau mit Blick in Richtung Süden, um aus dem Alpenvorland hereinziehende Gewitter im Blick zu haben. Vor uns offenbarte sich zwar das enorme Potenzial – rotierende Aufwindbereiche –, aber keine der Gewitterentwicklungen konnte den Sprung vom Hügelland ins Flachland schaffen; wohl eine Folge des hohen CIN. Über 30 Minuten standen wir in Hausleiten, beobachteten vom Wagram aus Aufwindbereiche an der Geländekante zwischen Wienerwald und Tullnerfeld, die letzten Endes nicht mehr aufrechterhalten werden konnten, und trotz der hohen Windgeschwindigkeiten in mittleren Höhen kaum näherzukommen schienen. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, veränderte sich das Himmelsbild ab 17 Uhr rasant. Mit Heranrücken des Westwindes, der in diesem Bereich auf den Ostwind traf, entwickelte sich fast genau über uns ein neuer Aufwindbereich, erstmals auch im Weinviertel nördlich der Donau. Unser Gedanke war daraufhin, unseren Standort in den nördlichen Bezirk Mistelbach zu verlegen, wo die nach rechts ausscherenden Gewitter – schließlich waren dies auch Superzellen – aus dem Waldviertel mit dieser Neuentwicklung zusammentreffen würden. Leider machte uns das immense Tempo der Neuentwicklung gemeinsam mit dem stockenden Autoverkehr vor Stockerau einen Strich durch die Rechnung. Wir kamen in trockenen, das heißt nicht von Regen begleiteten Hagelschlag, direkt unterhalb des massiv angewachsenen und mutmaßlich bereits rotierenden Aufwindbereichs. Und dies, nachdem wir uns kurz zuvor bereits unter einem Vordach untergestellt hatten, aber dann entschlossen haben, weiterzufahren, um mit dem Fahrt aufnehmenden Gewitter Schritt halten zu können. Neben ein paar Dellen in der Karosserie konnten wir dadurch Hagelkörner mit 4 bis 5 cm Durchmesser dokumentieren, hatten aber den Anschluss an die Vorderseite der Gewitter verloren. Wir konnten nur noch am Wetterradar verfolgen, wie sich die Gewitter im nördlichen Weinviertel weiter verstärkten. Letzten Endes war es genau die Zelle, deren Entstehung wir dokumentiert hatten, die nordostwärts über die österreichisch-tschechische Grenze zog und dort bei Hodonin einen der stärksten Tornados ausbildete, der in den letzten Jahrzehnten über Mitteleuropa dokumentiert wurde und bewohntes Gebiet traf.

In den folgenden Tagen wurde das Phänomen ob der räumlichen Nähe zur österreichischen Grenze auch bei uns medial ausgiebig behandelt, wobei insbesondere die Frage aufgeworfen wurde, ob dies „noch normal“ oder eine Folge des Klimawandels sei. Eine aus wissenschaftlicher Sicht derzeit nicht beantwortbare Frage, dementsprechend unklar die Antworten. Oft und zurecht wurde auf die Vergangenheit verwiesen, mit Fällen wie dem Tornado 1916 in Wiener Neustadt, der ein ähnliche Stärke erreichte und auf viele weitere Tornados, die jedes Jahr über Mitteleuropa entstehen, aber nur in den seltensten Fällen solche Zerstörungskraft entwickeln. Nachdem es sich bei einem Tornado dieser Kategorie um ein so ein seltenes Phänomen handelt, können noch keine Trends abgeleitet werden. Unklar ist auch die Dunkelziffer in früheren Jahrzehnten, und ob überhaupt alle Tornados dokumentiert wurden, sofern sie kein bewohntes Gebiet trafen. Zu guter Letzt ist auch die Entstehungsgeschichte von Tornados so komplex – und teilweise noch unverstanden – dass unklar ist, wie sich die vom Klimawandel ausgelösten Änderungen darauf auswirken. Klar und abgesehen von Beiträgen in diversen Internetforen unbestritten ist, dass die Temperatur im Zuge des Klimawandels zunimmt, was die mögliche Energie, die Gewitter freisetzen können, tendenziell erhöht. Allerdings werden, das zeigt auch die Erfahrung der vergangenen Jahre, Wetterlagen mit geringen Luftdruckgegensätzen in den Sommermonaten häufiger, weswegen seltener extreme Windscherungen wie am vergangenen Donnerstag auftreten könnten. Zudem werden Trockenphasen häufiger, wodurch die Verfügbarkeit von Wasserdampf in der Luft bei manchen Lagen abnehmen könnte (was interessanterweise vergangene Woche, trotz langer Trockenperiode zuvor, keine Rolle gespielt hat).

Zuletzt noch eine Frage: Warum blieb Wolkersdorf glücklicherweise verschont? Die unbefriedigende Antwort: Einerseits das Zusammenspiel von Topographie mit den an diesem Tag vorherrschenden Winden sowie wegen des massiven Deckels über dem Flachland. Andererseits bleibt in der Gewitterentstehung ein bedeutender Anteil schlicht dem Zufall überlassen: Die Gewitterentwicklungen und -auslöser spielen sich teilweise auf so kleinen räumlichen Skalen ab, dass sie auch mit den hochauflösendsten Wettermodellen nie ganz erfasst und verstanden werden können. Wir sind wieder beim Kochtopf: Man kann sagen, dass sich in einem Bereich des Kochtopfs bevorzugt Dampfblasen vom Boden des Kochtopfs lösen werden (wahrscheinlich dort, wo der Herd am meisten Wärme auf den Topf überträgt), aber wo exakt, hängt so stark von mikroskaligen Beschaffenheiten des Kochtopfs und auch den Wechselwirkungen der Dampfblasen untereinander ab, dass die Grenze der Vorhersagbarkeit überschritten ist – was übrigens eine interessante Brücke von der Meteorologie und Kochtöpfen in die Wissenschaftstheorie und Philosophie schlägt. Auch bei Gewittervorhersagen muss man mit Wahrscheinlichkeiten operieren und konnte in Bezug auf den 24.06.2021 sagen, dass das Potenzial zur Entwicklung von heftigen Gewittern im nördlichen Weinviertel noch etwas höher als im südlichen Weinviertel sein würde, aber ob konkret Schrattenberg oder das benachbarte Katzelsdorf von faustgroßem Hagel betroffen sein würde, wäre unmöglich vorherzusagen gewesen. Genauso die Frage nach der Vorhersagbarkeit von Tornados: Die Bedingungen, insbesondere die massive Windscherung und die hohe bodennahe Feuchte, waren von vornherein als tornadotauglich ersichtlich, was auch in einigen Vorhersagetexten erwähnt wurde (siehe z.B. die auf Unwettervorhersage spezialisierte Seite von www.estofex.org). Die Eingrenzung auf einen Ort hingegen ein Ding der Unmöglichkeit, abgesehen von Kürzestfristvorhersagen nach bereits erfolgter Bildung eines Tornados – wie man sie aus der Tornado Alley in den USA kennt.

Vielen Dank an die LeserInnen, die bis zu dieser Stelle durchgehalten haben. Sie müssen wirklich an Gewittern interessiert sein! Ich hoffe, damit ein bisschen Licht ins Dunkel zur Gewitterentstehung gebracht zu haben, und bedanke mich fürs Lesen.

UPDATE 02.07.: Einen sehr guten weiterführenden Beitrag zu Tornados, den Auswirkungen des Klimawandels auf deren Entstehung und zum konkreten Anlassfall gibt es auf dem Blog des Meteorologen Felix Welzenbach, zu finden hier.