Nachbetrachtungen eines Extremereignisses Teil 2
27.09.2024 19:50
Ich mag mich diesmal der Methoden der Extremwertstatistik bedienen, die für die Abschätzung von Jährlichkeiten bestimmter meteorologischer oder hydrologischer Gefahren ein wichtiges Anwendungsszenario findet. Bei jeder Statistik gilt natürlich: Ohne gute Daten gehts nicht, und je mehr davon, desto besser. Wie an dieser Stelle zuletzt ausführlich erklärt, erfreue ich mich seit einiger Zeit einer unerwartet aufgetauchten hundertjährigen Niederschlagsmessreihe aus Wolkersdorf, geführt von diversen hydrologischen Diensten im royalen Auftrage von Kaiser Franz Joseph I. bis Erwin Pröll (unter seiner Ägide endete die Messreihe).
Sehen wir uns zunächst ganz unabhängig vom zurückliegenden Extremereignis, aus purer Freude an den Daten, den Verlauf der jährlichen Niederschlagsmenge am Standort Wolkersdorf an. Ok, zugegeben dient dieser Anblick neben der Freude auch einem simplen Plausibilitätscheck der Daten. In zwei Jahren sind in der ansonsten erstaunlich vollständigen Reihe Ausfälle zu beklagen: Einerseits im Jahr 1920, hier wird im hydrographischen Jahrbuch der Wegfall der Station in Wolkersdorf erwähnt. Kommentarlos erscheint die Station schon im Folgejahr wieder, offensichtlich wurde die hydrologische Ausnahmestellung Wolkersdorfs schnell erkannt und korrigierend eingegriffen. Weiters kommt es auch im Kriegsjahr 1945 zu einer temporären Unterbrechung der Aufzeichnungen. Fragwürdige Daten kamen in einem anderen Kriegsjahr, nämlich 1917 in die Messreihe – zwar wurden monatliche Summen gemeldet, diese waren aber so niedrig und in offensichtlichem Widerspruch zu umliegenden Stationen, dass die Werte auch im hydrografischen Jahrbuch mit einem Fragezeichen versehen wurden. Wie im letzten Post erwähnt, verliert sich die Spur der Messreihe schließlich im Jahr 2000, doch bereits ab 1998 wird als Lokation der Wolkersdorfer Messungen räumlich etwas dissonant der Ort Pillichsdorf erwähnt. Für die folgende Darstellung der Jahresniederschläge habe ich mich daher auf den Zeitraum von 1896 bis 1998 beschränkt, und die Jahre mit Datenausfällen und fragwürdigen Messungen weggelassen.
Das dann immerhin hundertjährige Mittel des Jahresniederschlags liegt bei 562 mm, mit dem höchsten Wert im Jahr 1937 mit 841,3 mm und einem Minimum von 383,6 mm im Jahr 1926 (die dubiosen Werte aus 1917 außen vorgelassen). Zum Vergleich: In den vergangenen 13 Jahren habe ich einen durchschnittlichen Jahresniederschlag von 527 mm gemessen, wobei abzusehen ist, dass dieses Jahr das Mittel noch weiter nach oben bewegen wird (konservativ geschätzt in Richtung 540-550 mm).
Jetzt aber endlich weiter zur heiß ersehnten Extremwertstatistik, und hier konzentriere ich mich ausschließlich auf die höchsten Fünftagessummen während der langjährigen Aufzeichnungen. Das ist jene Kategorie, in der das Ereignis vom vorletzten Wochenende alles bisher im Weinviertel gemessene übertroffen hat; mehr Regen binnen eines Tages gab es an mehreren Standorten schon, aber nicht mehr Regen innerhalb eines Zeitraums von zwei bis fünf Tagen. Der erste Schritt zur Erstellung der Extremwertstatistik ist, nach dem Datencheck, die Berechnung der jährlichen Maxima der Zielgröße, in unserem Fall also die Fünftagesniederschläge. Nachdem mir tägliche Messungen nur bis 1989 vorliegen, musste ich ohne die letzten ca. zehn Jahre der Messreihe auskommen – womit mir ein markantes Ereignis im Juli 1997 entgeht, das aber zweifelsohne nicht die Ausmaße des heurigen Niederschlags angenommen hat.
Die Top 3 in der Kategorie der Fünftagesrekorde liegen schon eine gewisse Zeit zurück: In den Jahren 1897, 1930 und 1938 gab es jeweils Fünftagessummen zwischen 119,8 und 135 mm. Für die Berechnung der Jährlichkeiten wird dann basierend auf den jährlichen Maxima eine statistische Verteilungsfunktion „gefittet“ (die rote Kurve unten), also deren Parameter an die Beobachtungen angepasst. An die Verteilungsfunktion gilt der Anspruch, dass sie die im Messintervall beobachteten Häufigkeiten der Niederschlagswerte (die schwarzen Punkte) möglichst akkurat wiedergibt. In der Hydrologie bedient man sich üblicherweise der „Generalized Extreme Value Distribution“, mit dieser Konvention breche ich für meine Auswertung nicht. Die an die Beobachtungen angepasste Verteilungsfunktion gibt dann über die Auftrittswahrscheinlichkeit bestimmter Niederschlagssummen Aufschluss, woraus man die berühmten Jährlichkeiten ableitet. Für die Jährlichkeiten von Fünftagesniederschlägen ergibt sich im Falle Wolkersdorfs:
Hierzu muss natürlich angemerkt werden, dass diese Jährlichkeiten für das mittlere Klima zwischen 1896 und 1989 gelten. Klimacharakteristika wie Extremniederschläge können sich wandeln, und was zwischen 1950 und 1980 ein 30-jährliches Ereignis gewesen ist, muss es für den Zeitraum von 1990 bis 2020 nicht mehr unbedingt sein. Im Kontext des Klimawandels umso wichtiger ist es zu sehen, wo sich Beobachtungen wie die 244,7 mm vom vorletzten Wochenende im langjährigen Klima der früheren Jahrzehnte einreihen. Und wie aus der Grafik oben ersichtlich: Dieses Ereignis sprengt bisherige Beobachtungen, und fällt so weit aus der Spanne früherer Beobachtungen, dass die Jährlichkeit nicht statistisch seriös abschätzbar ist. Es lässt sich nur feststellen, dass ein hundertjährliches Ereignis (das entspräche ca. 135 mm) nicht nur ein bisschen, sondern um mehr als 100 mm übertroffen wurde – eben dieses frühere Klima vorausgesetzt.
Basierend auf einem flächigen klimatologischen Datensatz der GeoSphere Austria lässt sich aber zeigen, dass die maximale fünftägige Niederschlagsmenge im Nordosten Österreichs bereits für die 30-jährige Klimaperiode von 1991 bis 2020 um ca. 20 % gegenüber der Periode von 1961 bis 1990 zugenommen hat (Pressemitteilung der GeoSphere). Während Tage mit vergleichsweise wenig Niederschlag (wie z.B. der heutige Freitag) tendenziell seltener werden, werden Tage mit sehr viel Niederschlag (wie z.B. der Freitag vor zwei Wochen) häufiger. Das darf nicht überraschen: In einer sich erwärmenden Atmosphäre ist der maximal mögliche Wasserdampfgehalt höher – ca. 7% mehr Wasserdampf pro 1°C – und auch höhere Meeresoberflächentemperaturen können derartige mitteleuropäische Hochwasserlagen verschärfen. Studien zu dem Beitrag der Meeresoberflächentemperatur zum aktuellen Hochwasser sind dem Vernehmen nach bereits in Arbeit und könnten z.B. solcherart durchgeführt werden, dass ansonsten identische Modellsimulationen mit unterschiedlichen Meeresoberflächentemperaturen gerechnet und verglichen werden. Ohne dem Ergebnis solcher Studien vorgreifen zu wollen, aber (u.a.) aus Satellitenmessungen gespeiste Analysedaten des atmosphärischen Wasserdampfgehalts legen bereits jetzt recht eindrücklich nahe, woher der Wasserdampf für den Niederschlag stammte, der vor zwei Wochen auf uns geregnet kam. Hier die Animation des „PWAT“ (Precipitable Water), des summierten Wasserdampfgehalts in der Luftsäule.
Drei finale Anmerkungen dazu: Zunächst, wie auch in einem lesenswerten Blogpost des Meteorologen Felix Welzenbach bemerkt, die sehr hohen Ausgangswerte über Nordafrika. Dann, am Beginn des Niederschlagsereignisses, die direkte Zufuhr von Wasserdampf aus dem Bereich der Adria. Mit Festsetzen des Tiefdruckgebiets über Mitteleuropa drehte die Höhenströmung in unserem Bereich zunehmend auf Ost, später Nordost. Daher die dritte Anmerkung: Zu diesem Zeitpunkt dürfte ein wesentlicher Teil der Feuchtezufuhr aus dem Bereich des Schwarzen Meers (!) erfolgt sein, das Anfang September ebenfalls noch deutlich überdurchschnittliche Wassertemperaturen von 25°C verzeichnete. Ein meteorologischer Trend ist die Bezeichnung dieser fortgesetzten Wasserdampfzufuhr als „atmospheric river“.
Der Freitagnachmittag ist mittlerweile zum Abend geworden, ich danke fürs Lesen und Durchhalten bis hierher und wünsche ein schönes, herbstliches Wochenende.